Samstag, 22. November 2014

Abschlussbericht


So meine Lieben, es kommt doch noch ein Beitrag. Für meine Entsendeorganisation ijgd habe ich einen abschließenden Erfahrungsbericht verfasst, in dem ich versuche meine Entscheidung wegzugehen, meine Zeit in Kenia und meine resultierenden Denkanstöße zusammenzufassen. Genau diesen Text könnt ihr hier nun lesen. :)

Kenya 2013/14

Schule, Abitur und was dann? Die Frage beschäftigt wohl jeden in seinen letzten Schuljahren. Für mich kam es nicht in Frage, direkt mit dem Studium anzufangen. Abgesehen davon, dass ich noch keine genauen Vorstellungen davon hatte, was es denn nun für ein Studium sein sollte, verspürte ich diese Unruhe in mir. Eine Unruhe, die danach schrie allem Bekannten, allen Schubladen, jedem Alltag zu entkommen und den Kopf frei zu bekommen.
Man könnte es beschreiben als die altgewohnte „Suche nach sich selbst“. Ich würde es aber eher als einen Augenblick des Innehaltens beschreiben.
Fern von allem: durchatmen, die ganze Welt auf den Kopf stellen, sich selbst einmal ordentlich durchrütteln und sehen, was ich eigentlich wirklich nicht kann und was vielleicht doch. Mich erleben, an einem Ort, an dem ich mich selber noch nicht kenne. Mehr oder weniger also ein Trip, den ich für mich getan habe. Auch wenn bei der ersten Entscheidung, in ein Entwicklungsland zu gehen, das „Helfer“-Klischee durchaus eine entscheidende Rolle spielte.
Einmal mit weniger Luxus leben, Armut sehen, Selbstverständliches zu schätzen lernen und mir selbst beweisen, dass ich nicht nur rede und rede, sondern auch für meine Überzeugungen der Hilfsbereitschaft selber eintreten kann. Soweit die von mir ausgemalte Theorie. Nun bekam ich doch wirklich eine Zusage für Kenia. Nachdem ich meinen Auslandswunsch schon seit einem Jahr, während der Entscheidungs- und Bewerbungsphase, stur gegen alles und jeden verteidigt hatte, wurde es ernst und all meine großen Worte verflüchtigten sich in eine leichte Panik. Kann ich das? Will ich das? Ich schreibe nun diesen Bericht, also ja, ich habe die Zähne zusammengebissen und zugesagt. Mit jeder anderen Entscheidung hätte ich mich von mir selbst verraten gefühlt. Nachdem ich zugesagt hatte, verflogen alle Bedenken und die aktive Vorbereitung begann. Mit Seminaren, die mein gesamtes Denken einmal umstülpten und neue Gedankengänge zuließen. Entwicklungsarbeit, Freiwilligendienste, all jenes…ist das denn immer gut? Und was wollte ich, helfen? Ich? Wem? Wohl vor allem mir. Nachdem ich meinen gesamten Ansporn für dieses Jahr in Kenia nochmal gründlich überdacht und neu ausgelegt hatte, hieß es endlich Abschied nehmen und ab ins Flugzeug. An den Ort, von dem alle seit Monaten redeten, mit guten Ratschlägen und Spekulationen von dem, was kommen mochte - von dem sie, wie ich - aber eigentlich nichts wussten.

Ankunft. Wir waren etwa 14 Freiwillige, die zusammen in Nairobi landeten. Zu dem Moment noch größtenteils Fremde, so sollten wir doch mit der Zeit zu einer kleinen Familie zusammenwachsen, auf die ich mich in jeder Lage zu 100% verlassen konnte und die auch jetzt noch, eine essentielle Rolle in meinem Leben spielt.
Und wie sah das sonst mit Familie aus? Ich habe während meiner Zeit in Kenia aus verschiedenen Gründen in mehreren Wohngelegenheiten gewohnt. Bei Familien, aber auch bei einem Junggesellen und ganz zuletzt im Projekt selbst. Die Unterbringungen waren von ihrer Ausstattung und dem ganzen mich umgebenden Leben sehr unterschiedlich. Von der alleinerziehenden, arbeitenden Mutter, über eine täglich zu wachsen scheinende Großfamilie, einen gesprächigen Junggesellen und schließlich umgeben von meinen immer aktiven students. Mal mit Gasherd und Kühlschrank aber die halbe Woche ohne fließendes Wasser, dann mit Kochhilfe, Gaskocher und weniger Platz, dafür immer warmen Wasser, dann das Leben mit Waschmaschine und Musikanlage aber auch hier mit dem altbekannten Wasserproblem und schließlich mit Außenklo, eiskalter Dusche mit Brunnenwasser und ohne Strom im Zimmer. Verschiedene Lebensweisen. Die einen haben das, dafür „fehlt“ ihnen was anderes. Was ich am Anfang für selbstverständlich hielt (wie den Gasherd), stellte sich später als etwas Besonderes heraus. Und was lernte ich daraus, außer, dass niemals Alles so ist, wie es einseitig gesehen erscheint? Ich lernte, dass mir nie irgendetwas gefehlt hat. Nicht der Gasherd, nicht der Kühlschrank, nicht die Waschmaschine, nicht das warme Wasser. Für alles gibt es Ersatz und seine Tricks. An keinem Ort habe ich „besser“ gelebt, als an einem anderen. Ich war Zuhause und habe meinen Alltag ganz normal gelebt. Nicht schlechter und nicht anstrengender als in Deutschland. Einfach nur anders.
Bei meiner Einsatzstelle sah es genauso divers aus, wie bei den Unterbringungen. Ich war in mehreren Projekten. Waisenhaus, Primary School und in einem Heim für mental Behinderte.
Und ich habe sie alle geliebt. Egal in welchem Projekt, ich wurde von den Schüler_innen herzlich und mit viel Neugierde aufgenommen. Sie lernten meinen Namen, die Namen meiner Eltern und Brüder, freuten sich über mein Haar, meine Bilder und Versuche, Kiswahili zu sprechen. Sie freuten sich, mich zu sehen. Genauso wie ich mich an ihnen freute und allein darin, hatte ich meine Rechtfertigung und meinen persönlichen Grund für meine Zeit in Kenia schon gefunden. Wo man mit Liebe willkommen geheißen wurde, geht man nur schweren Herzens wieder weg. Und so wog mein Herz gegen Ende mehr als 100kg.
Da mein letztes Projekt noch von Weltwärts angeboten wird, will ich darauf etwas näher eingehen. Das Marianne Center für mental Behinderte, liegt im Kiambu District, nahe der Stadt Limuru. Signifikant durch seine Kälte… . Nach meinen neun Monaten im angenehm warmen Nairobi ein ungläubiger Schock. Das Center ist von Wald umgeben und zum Teil noch eine Baustelle, da es erst vor nicht langer Zeit dorthin umgezogen ist. Wir hatten zum Beispiel bei uns im Girls Dorm noch keinen Strom und das zweite Klassenzimmer wurde noch fertiggestellt, als ich gegangen bin. Die Behinderungen unserer students variieren stark. Einige haben nur eine Lern- bzw. Rechtschreibschwäche, andere haben schwerere Behinderungen. Auch wenn es anfangs nicht leicht war, sich von dem lebhaften und ereignisreichen Leben in Nairobi auf die Stille und Abgelegenheit des Centers einzulassen, brauchte ich nur etwa zwei Tage um mich in mein neues Zuhause zu verlieben. Nicht, weil ich ein unglaublich anpassungsfähiger Mensch bin, sondern, weil ich von allen Seiten herzlich aufgenommen und belagert wurde. Da ich im Unterricht beim Schneidern, Beadwork und anderen Handarbeiten nicht viel helfen konnte, machte ich es mir bald zur Aufgabe den Nachmittag zu gestalten, wenn die Lehrer fort waren. Sobald ich mit dem Laptop zum Klassenzimmer ging, kamen von überall „Music!!“-Rufe und bald saßen wir alle gespannt zusammen und suchten Lieder aus, auf die es nun zu Tanzen hieß. Außer uns waren noch die Köchin, die Matron und der Aufpasser für die Jungs im Center. Genießen duften wir täglich Githeri und Ugali. Festschmaus, bis man es zum dritten Mal vorgesetzt bekommt.
Vor dem Schlafen gehen wurde geplaudert, weiter getanzt, Emails von meinen Schüler_innen an meine Familie geschrieben oder ich wurde zum Fotoshooting im Girls Dorm verdonnert. Um neun war dann jedoch Schlafenszeit für meine Mädels und für mich war es Zeit leise zum Brunnen zu schleichen und mit meiner Kopflampe zu Duschen - möglichst ohne den Schönheitsschlaf der anderen zu stören.
Am Wochenende ging es oft nach Nairobi, meine erste Heimat. Ort zum ausgelassenen Beisammensein mit anderen Freiwilligen und Freunden, zum Shoppen und Kochen und Tanzen. Der Ort, von dem aus alle unserer schönsten Reisen gestartet sind. Mit Backpacker und Verspätung und der Freude, dass unser Bus noch mehr Verspätung hatte als wir. Dann ging es - mit Blick über die weiten Flächen Kenias - nach Mombasa oder Nakuru oder Kisumu, bald schon nicht mehr die Zebras und Gazellen als etwas Besonderes wahrnehmend, sondern ausgelassen über Geschehnisse des Alltags plaudernd, die Strecken kennend und in Smalltalks mit Fremden verstrickt. Viele dieser Begegnungen begleiten mich noch heute. Als Anlass zum Schmunzeln, zum Grübeln oder als eine Geschichte, die es wert ist, weitergetragen zu werden.

Wenn ich so zurückdenke, frage ich mich, was ich eigentlich diese ganzen elf Monate getan habe. Es gab doch so viel mehr zu sehen, so Vieles zu erleben. Aber mich hat es immer wieder an die gleichen Orte zurückgezogen, in die gleichen Clubs, die gleichen Hostels, zu den gleichen Obstständen, zu den gleichen Leuten, in die gleichen Busse. Aber das macht nichts. Ich hätte mehr sehen können, aber so kann ich sagen, dass ich weder in Nakuru, noch in Kisumu oder Ahero, Mombasa, Kampala, Nairobi, Limuru oder auf Lamu jemals allein, verloren und heimatslos dastehen würde. Und das ist ein schönes Gefühl. So viele Menschen, die ich kennen lernen durfte. All die zufälligen, kurzen Begegnungen, die ich in Deutschland sehnlichst vermisse. Meine Projekte, die mich mehr gelehrt haben als ich sie. Die vielen schönen, kleinen Momente, die ich auf keiner Kamera festhalten konnte. So vieles, auch Erfahrungen über mich. Die Erkenntnis, dass ich mehr kann, als ich mir oft einrede. Dass ich egal wo klar komme, solange ich mich nicht verstecke und mich traue, auch mal zu vertrauen. Sei es auf mein Bauchgefühl, dass mir sagt, ich sollte an diesem Ort nicht sein, oder auf Menschen und ihre Hilfsbereitschaft.
Mehr noch: Ich habe erfahren, dass ich „weiß“ bin und nicht immer nur die anderen „schwarz“. Ja. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich ganz bewusst und offensichtlich weiß. Und dieses Weiß-Sein war keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas, über das es sich zu reden lohnt, ein Gesprächs- und Diskussionsthema zu jeder Lebenslage. Wann redet man in Deutschland mal nicht über das schwarz- sondern das Weiß-Sein?
Zusammengefasst, mir wurde bewusst, dass Dinge manchmal so sind wie sie erscheinen, aber nie vollkommen, durch und durch wie sie erscheinen, sondern auch anders. Alles hat mehr als nur zwei Seiten, alles beinhaltet viele Geschichten und Gesichter, Meinungen und Perspektiven, Gesagtes sowie Ungesagtes, das nicht vernachlässigt werden darf.
Mich haben diese elf Monate und die dazugehörigen Seminare in meinem Denken über Begriffe wie „Afrika“, „Entwicklungsländer“, „Armut“, „Entwicklungsarbeit“ und „Helfen“ stark bewegt. Tatsachen, die für mich unerschütterlich wirkten, wurden umgedreht und ich bin dabei, mir eine neue, eigene Meinung aufzubauen. Was ist „Armut“? Wem muss, sollte oder kann man „helfen“ und warum eigentlich? Beziehungsweise, warum vielleicht auch grade nicht? Und wie sollte man das am besten anstellen? Und noch viel mehr Fragen, für die ich noch nach einer für mich passenden Antwort suche. Und trotzdem…dieses Jahr würde ich, vielleicht anders, aber trotzdem zu jeder Zeit wiederholen und niemals bereuen, dafür war es für mich viel zu wertvoll.